Europäische Autoindustrie hat Nachholbedarf bei „digitaler Transformation“

Europäische Autoindustrie hat Nachholbedarf bei „digitaler Transformation“.  Vergleichsstudie zu Digitalisierungsstrategien in der europäischen Automobilindustrie: Digitale Transformation erfolgreich gestalten – inhaltlich & kulturell

Studie von Berylls Strategy Advisors in Zusammenarbeit mit dem Institut für Wirtschaftsinformatik und Neue Medien (WIM) der LMU München zu Digitalisierungsstrategien in der Automobilindustrie

  • Nur wenige der befragten OEMs setzen bereits konsequent Digitalisierungsstrategien um – trotz eines homogenen Grundverständnisses und gleicher Herausforderungen für die gesamte Branche
  • Alle Spielarten bei strukturellen Fragen, der Ausgestaltung der Wertschöpfung sowie der Nutzung von Technologien sind zu beobachten – bislang kaum einheitliche Muster in den Digitalisierungsstrategien der OEMs
  • Großer Nachholbedarf bei der Etablierung einer „digitalen“ Kultur und Führung – Hersteller haben noch einen langen Weg bis zur kulturellen Transformation vor sich
  • Unterschiedliche Einschätzungen der finanziellen Dringlichkeit von Transformationsbemühungen – erste Auswirkungen jedoch bereits im Handel spürbar

Nicht zuletzt konfrontiert mit immer neuen Vorstößen von digitalen „Playern“ wie Tesla, Google, Uber oder Apple im Bereich der Mobilität, hat die Automobilbranche – wie viele andere, klassische Industrien auch – die Notwendigkeit erkannt, den Trend der Digitalisierung systematisch zu bearbeiten und die digitale Transformation mit gezielten Strategien aktiv zu gestalten. Eine neue Studie von Berylls Strategy Advisors in Zusammenarbeit mit dem Institut für Wirtschaftsinformatik und Neue Medien (WIM) der LMU München hat in diesem Zusammenhang erstmals die Ausgestaltung von Digitalisierungsstrategien bei mehreren europäischen Automobilherstellern untersucht – mit einigen überraschenden Ergebnissen.
Homogenes Grundverständnis, aber nicht alle OEMs gehen den digitalen Wandel mit aller Konsequenz an

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Die europäische Autoindustrie hat Nachholbedarf bei digitaler Transformation

Bei der Befragung von Management¬vertretern aus den Bereichen (Digital-)Strategie oder mit Verantwortung für zentrale Digitalisierungsinitiativen, fällt das überraschend einheitliche Grundverständnis vom Trend der Digitalisierung und den daraus resultierenden Anforderungen auf. So heben die Befragten bei insgesamt sechs europäischen Premium- und Volumenherstellern besonders drei Merkmale der Digitalisierung im automobilen Kontext hervor: 1) Die steigende Wettbewerbsdynamik durch neue Akteure aus anderen Industrien, 2) die Allgegenwärtigkeit der ausgelösten Veränderungen, die vor nahezu keinem Unternehmensbereich Halt machen sowie 3) eine zunehmende Kundenzentrierung, die neben der Digitalisierung von Produkten und Prozessen auch zu einer verstärkten Digitalisierung der Kundenschnittstelle führt – beispielsweise durch neue Interaktionsmöglichkeiten zwischen OEM und Kunde über das Infotainment-System im (vernetzten) Fahrzeug oder durch die Einführung von Online-Stores für den Direktvertrieb von Neuwagen.

„Der wesentlichste Umbruch für uns ist, dass digitale Spieler versuchen, sich zwischen uns und den Kunden zu schieben, indem sie die Kundenschnittstelle besetzen.“ – Senior Manager: R&D

Trotz dieses homogenen Grundverständnisses von Digitalisierung, haben nur wenige der im Rahmen der Studie betrachteten Premium- und Volumen¬hersteller bereits eine dezidierte Strategie für die digitale Transformation des Unternehmens formuliert bzw. die Umsetzung dieser angestoßen („Leaders“). Der Großteil der befragten Hersteller, so scheint es, konzipiert diese Strategien noch („Followers“) oder befindet sich aktuell in einer Orientierungsphase („Laggards“). „Obwohl die gesamte Branche vor den gleichen Herausforderungen steht, gehen noch nicht alle Automobilhersteller den digitalen Wandel mit einer eigens dafür entwickelten Digitalisierungsstrategie aktiv an“, kommentiert Dr. Matthias Kempf von Berylls Strategy Advisors und Co-Autor der Studie. Ein Vergleich zwischen den Automobilherstellern verdeutlicht zudem, dass sich die OEMs im Hinblick auf ihren „digitalen Reifegrad“ stark unterscheiden und einige Hersteller offensichtlich mit ihrer digitalen Transformation weiter vorangeschritten sind als andere. Somit ergibt sich schon heute eine Abstufung innerhalb der Branche, die nicht maßgeblich auf die Positionierung als Premium- oder Volumenhersteller zurückzuführen ist.

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Nachholbedarf bei digitaler Transformation

Digitale Transformation geschieht vor allem „Bottom-Up“

Das Thema Digitalisierung ist für die meisten Automobilhersteller jedoch nicht von Grund auf neu: durch unterschiedlichste digitale Initiativen in Bereichen wie Forschung & Entwicklung oder dem Vertrieb wird das Thema bei einigen OEMs schon seit über zehn Jahren zumindest punktuell bearbeitet. Dabei fällt auf, dass sich die Digitalisierungs¬¬¬bemühungen bei den befragten Herstellern in den vergangenen Jahren verstetigt haben. Diese Bemühungen sind durch „Bottom-Up“-Aktivitäten geprägt – also digitale Projekte, die von der operativen Ebene sowie dem mittleren Management initiiert und zunächst nicht systematisch vom Top Management gesteuert wurden. Die digitale Transformation wird somit durch die Aktivitäten unterschiedlichster Stakeholder über alle Funktionsbereiche und Hierarchieebenen hinweg vorangetrieben, ohne dass diese überhaupt „Top-Down“ angestoßen wurden. „Viele Hersteller scheuen sich noch die wahren Probleme anzugehen – vor allem ihre Kernprozesse ganzheitlich zu verändern“, so Dr. Jan Burgard, geschäftsführender Partner bei Berylls Strategy Advisors und Co-Autor. „Sie sind oft gefangen in ihren eigenen Strukturen und Gremien.“

Diese teils unkoordinierte Entstehungsweise bewegt das Top Management zunehmend dazu, der Organisation mithilfe von Digitalisierungsstrategien eine Richtung vorzugeben. „Neuerdings neigen nahezu alle Automobilhersteller dazu, wie viele Unternehmen aus anderen Branchen auch, eigenständige Digitalisierungsstrategien auf oberster Ebene zu etablieren. Wir verstehen darunter einen ganzheitlichen Ansatz, um digitale Transformationsbemühungen über alle Unternehmensbereiche hinweg zu koordinieren, zu priorisieren und zu implementieren“, erläutert Professor Thomas Hess, Direktor des Instituts für Wirtschaftsinformatik und Neue Medien der LMU München und Co-Autor der Studie.

Die neuen Strategien zielen somit darauf ab, einheitliche Zielbilder für alle laufenden digitalen Aktivitäten innerhalb der Organisation zu schaffen und die Vielzahl an separierten sowie deutlich früher entstandenen, digitalen Initiativen an diesem Zielbild auszurichten. Zumeist geht mit der Implementierung einer Digitalisierungs¬strategie auch die Einführung von neuen (Digitalisierungs-)Einheiten bzw. Rollen wie dem Chief Digital Officer (CDO) einher, die kritische Aufgaben für die Steuerung der digitalen Transformation übernehmen. Zu diesen Aufgaben zählt vor allem die Erfüllung einer speziellen Governance-Rolle, welche zu einer dauerhaften Transparenz über laufende digitale Aktivitäten und zur Förderung von Zusammenarbeit innerhalb der Organisation beitragen soll. In manchen Fällen werden die neuen Einheiten außerdem mit eigenen Budgets ausgestattet, um unternehmensweite digitale Initiativen voranzutreiben und damit das noch immer verbreitete „Silo“-Denken zu durchbrechen.

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digitale Transformation – ein „Must“ für die europäische Automobilindustrie

Alle Spielarten bei Struktur, Wertschöpfung sowie Technologien zu beobachten

Wie die Automobilhersteller ihre Digitalisierungsstrategien inhaltlich ausgestalten, hängt von unterschiedlichsten Faktoren ab. Aufgrund von zahlreichen branchenspezifischen Trends im Kontext der Digitalisierung wie etwa dem Connected Car oder den Mobilitäts¬dienstleistungen und unterschiedlichsten Schwerpunktsetzungen der Hersteller, sind verschiedene Herangehensweisen bei den Veränderungen von Wertschöpfung und Geschäftsmodell zu beobachten. Das gleiche gilt für die Ausgestaltung von strukturellen Veränderungen im Rahmen der digitalen Transformation. So greifen die OEMs auf Organisationsformen wie Projekthäuser, Akquisitionen von Start-Ups oder aber auch Ausgründungen für ihre digitalen Initiativen zurück, je nachdem welche Veränderungen aus Sicht der Wertschöpfung erzielt werden sollen. Hier zeigt sich, dass die Distanz zum Kerngeschäft und das disruptive Potenzial des Vorhabens entscheidende Faktoren für die Wahl der Organisationsform sind. Beispielsweise lässt sich daher beobachten, dass Mobilitätsdienstleistungen aufgrund einer gewissen Distanz zum Kerngeschäft tendenziell eher in eigenständige Organisationseinheiten oder Gesellschaften überführt werden. „Digitale Transformation des Kerngeschäfts wird oft fälschlicher Weise allein mit dem Aufbau neuer digitaler Geschäftsmodelle gleichgesetzt. Die digitale Transformation ist aber ein wesentlich langwierigerer und aufwendigerer Prozess, der alle Fachbereiche der Hersteller beinhaltet“, so Dr. Jan Burgard von Berylls.

Bei der Nutzung von Technologien fällt auf, dass der Wandel der IT von der noch immer stark verbreiteten „Supporter“-Rolle hin zum „Enabler“ als Voraussetzung für eine erfolgreiche digitale Transformation von allen befragten Führungskräften aus technologischer Sicht klar unterstrichen wird, die IT-Abteilung aus organisatorischer Sicht aber immer noch mit Image-problemen kämpft und in nur wenigen Fällen für die Fachbereiche als vollwertiger Business-Partner angesehen wird.

„Die IT ist bei uns zwar etwas mehr als ein Infrastruktur-Bereitsteller, aber sie ist weit davon entfernt, die Haupt-Transformationsfunktion zu sein, wie es aus meiner Sicht sein müsste.“ – Vice President: R&D

Im Vergleich zu anderen Branchen ist zudem auffällig, dass die IT-Abteilung unternehmensintern nicht als zentrale Transformationsfunktion gilt – auch deshalb, weil sie das Thema Digitalisierung nicht von Anfang an federführend besetzt hat. Bei den OEMs führt diese Situation daher zunehmend zu einer Aufteilung der Kompetenzen innerhalb der IT-Abteilung: während der klassische IT-Bereich weiterhin die Pflege der „Legacy“-Infrastruktur (zum Beispiel der ERP-Systeme) verantwortet, befassen sich neue geschaffene IT-Einheiten vor allem mit „digitalen“ Themen und setzen dabei agile Methoden wie Scrum oder nutzerzentrierte Innovationsmethoden wie Design Thinking ein. Auch lässt sich beobachten, dass sich manche Bereiche, wie beispielsweise der Vertrieb, für digitale Themen zunehmend losgelöste IT-Infrastrukturen aufbauen und dabei vermehrt auf externe Dienstleister zurückgreifen, welche vermeintlich einen kürzeren Time-to-Market versprechen.

Eindeutige Erfolgsmuster in den Digitalisierungsstrategien der Automobilhersteller lassen sich bislang aber noch nicht ausmachen, nicht zuletzt auch aufgrund des frühen Stadiums der Transformationsbemühungen innerhalb der Branche. Die Strategien der untersuchten „Leaders“ zeichnen sich jedoch besonders durch ihre Vielfalt aus und verknüpfen verschiedenste Ansätze in den Bereichen Technologie, Wertschöpfung und Struktur. Gegenüber dem Vorgehen der „Followers“ sowie der „Laggards“ unterscheiden sich die Strategien der „Leaders“ allerdings dadurch, dass sie über alle Unternehmensbereiche hinweg in einem höheren Tempo eine Vielzahl an neuen Ideen und Vorgehensweisen ausprobieren und dabei zunehmend ergebnisoffen vorgehen. Dies ist einerseits auf die unkoordinierte Entstehungsweise der Strategien zurückzuführen, andererseits aber auch eine bewusste Maßnahme seitens des Top Managements, das sich hierbei zunehmend für den „Trial-and-Error“-Ansatz öffnet.

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digitale Transformation

Großer Nachholbedarf bei der Etablierung einer „digitalen“ Kultur & Führung

„Auch wenn sich bereits erste Veränderungen in der Einstellung des Top Managements sowie der Unternehmenskultur beobachten lassen, so haben die Hersteller noch einen langen Weg vor sich, damit auch die kulturelle Transformation gelingt“, ergänzt Dr. Matthias Kempf von Berylls. Denn im Bereich der Kultur und Führung ist die Automobilbranche – wie gleich mehrere Befragte betonten – noch immer eher „analog“ als „digital“. Dies zeigt sich beispielsweise durch die strikte funktionale Organisation vieler Hersteller, die nach wie vor mit starren Hierarchien und wenig Austausch über die Bereichsgrenzen einhergeht. Wenngleich das andere Extrem der „digitalen“ Welt – wie sie beispielsweise im Silicon Valley eindrucksvoll vorgelebt wird – aus unterschiedlichsten Gründen nicht der unmittelbare Maßstab für die Automobilhersteller sein sollte, so können Merkmale wie die cross-funktionale Ausrichtung zur Reduktion von Schnitt¬stellen, die Arbeit in interdisziplinären und agilen Teams mit flachen Hierarchien und die an Fähigkeiten und Ergebnissen orientierten Führungssysteme dennoch als Anhaltspunkte für die kulturelle Transformation der Automobilhersteller dienen.

Relevanz allgemein erkannt, doch unterschiedliche Einschätzungen

Mit der kulturellen Transformation geht auch die Erarbeitung eines gemeinsamen, aber differenzierten, Bildes auf das Thema Digitalisierung innerhalb der Organisation einher, das bislang noch zu fehlen scheint. Die Studienergebnisse zeigen, dass die Bedeutung des Trends der Digitalisierung bei den Herstellern grundsätzlich unbestritten ist, der daraus resultierende finanzielle Druck für das jeweilige Unternehmen und damit die Dringlichkeit zum Handeln aber durchaus unterschiedlich eingeschätzt wird.

„Ich kann nicht sagen, was wir durch Anbieter wie mobile.de, autohaus24 usw. an Einbußen haben […] – es wird höchstwahrscheinlich Impact haben und sicherlich einen deutlichen.“ – Director: Corporate Strategy

Während einige Interviewpartner darauf verwiesen haben, dass der Großteil der Umsätze und Gewinne noch immer über das klassische Geschäfts¬modell erzielt würde, gaben andere Interviewpartner an, dass bereits erste Einbußen im Automobilhandel zu spüren seien. So würden die Margen im Handel durch die Aktivitäten von neuen „Playern“ wie autohaus24.de oder mobile.de im deutschsprachigen Raum, Autotrader.com in den USA oder Tmall.com in China schon heute zurückgehen. Damit ist zwar noch lange kein „Kodak“-Moment für die Automobilbranche in Sicht, aber die zum Teil unerwarteten Vorstöße von neuen Wettbewerbern aus anderen Branchen in den Bereichen Elektrifizierung, Mobilitäts-dienstleistungen oder autonomes Fahren lassen nur erahnen, welcher disruptive Schub der Branche noch bevorsteht.

Wirkungsdimensionen berücksichtigen

Die Studienergebnisse verdeutlichen, dass für die erfolgreiche Gestaltung von Digitalisierungsstrategien verschiedenste Wirkungsdimensionen – vor allem Struktur, Wertschöpfung, Kultur und Führung, Technologien sowie finanzielle Aspekte – berücksichtigt werden sollten. Auf Grundlage der Ergebnisse werden daher fünf zentrale Handlungsempfehlungen für Automobilhersteller abgeleitet, die auf diesen Dimensionen aufsetzen und die Gegebenheiten der Branche reflektieren. Ferner fließen in die Handlungsempfehlungen auch Erkenntnisse aus der Medien- und Versicherungsbranche ein, welche derzeit auch eine digitale Transformation durchlaufen bzw. wie im Falle der Medienbranche den Transformationsprozess schon deutlich früher angestoßen haben. „Im Vergleich zu anderen Branchen, die wir im Rahmen der Studie betrachtet haben, ist der finanzielle Druck zur digitalen Transformation für die Automobilhersteller gering. Vor diesem Hintergrund ist bemerkenswert, welche Summen die OEMs schon heute in ihre Digitalisierungsbemühungen investieren“, kommentiert Professor Hess von der LMU die gegenwärtige Situation in der europäischen Automobilindustrie.